Warum Kinder unsere Grenzen testen-Teil 1

Dieses große Thema beschäftigt mich schon länger, und was dabei herausgekommen ist, das findet ihr hier.

Der bekannte Familientherapeut Jesper Juul sagte: „Nicht Kinder brauchen Grenzen, Eltern brauchen Grenzen.“ Allerdings ist es nicht immer einfach für uns Eltern, unsere Grenzen klar wahrzunehmen und zu erkennen. Dies erfordert Hineinspüren in uns, Übung und auch Flexibilität. Vor allem die Kleinkindzeit unserer Kinder bietet allerdings ein ideales Übungsfeld für uns Eltern.

Ein wichtiger Teil der Entwicklung von Kleinkindern besteht darin, ihren Willen und ihre „Power“ zu erproben und dabei uns und unsere Reaktionen bzw. auch unsere Grenzen kennenzulernen. Das ist eine ihrer Aufgaben und ein gesunder und wichtiger Schritt auf dem Weg zu ihrer Unabhängigkeit. Außerdem wollen sie ihre Bedürfnisse stillen aber auch ihre Wünsche erfüllen.  Dabei stellen sie häufig unsere Geduld auf die Probe.

Für das Kind ist es sehr hilfreich, wenn es die Gewissheit hat, dass die Eltern diese kindliche Kraft gut bändigen können. Wenn es uns gelingt, ruhig mit den manchmal herausfordernden Situationen umzugehen, kann dies unserem Kind wertvolle Lernerfahrungen schenken. Ihm wird zudem das Gefühl der Sicherheit vermittelt, dass es bei uns Eltern gut aufgehoben ist und wir gut auf unser Kind und seine Bedürfnisse achten. So kann auch unsere Beziehung zum Kind gestärkt werden und uns noch mehr mit ihm verbinden.

Anhand von einigen Beispielen können wir mögliche Situationen kennenlernen, beginnend mit den jüngsten, den unter einjährigen Kindern.

Das 10-monatige Baby im SpielRaum klettert und turnt auf dem Schoß des Vaters herum und zieht sich an seinem Körper zum Stehen hoch.
Diese Situation wird häufig noch gar nicht als Testen wahrgenommen, weil das Kind noch sehr jung ist und die Eltern in diesem Alter dem Kind mehr oder weniger jedes „Bedürfnis“ zu befriedigen versuchen.
Vielleicht findet der Papa es sogar förderlich für die motorische Entwicklung, wenn das Kind sich an ihm aufzurichten probiert.
Es kann auch sein, dass es ihn gar nicht wirklich stört, auch weil das Kind noch so jung ist. Er freut sich wohl, dass das Kind seine Nähe sucht.

Hier handelt es sich vermutlich einerseits um das Bedürfnis des Kindes nach Nähe und andererseits den Wunsch zu turnen und das Klettern zu probieren. Wir können dem Kind klar mitteilen. „Du kannst bei mir am Schoß sitzen bleiben. Wenn du aufstehen und herumturnen möchtest, kannst du das hier beim Kletterdreieck oder bei dem Stuhl probieren.“ Wenn das Kind eine klare Grenze bekommt, wird es ihm auch leichter fallen, sich klar zu entscheiden.

Das 11-monatige Baby zieht an den Haaren der Mutter, wenn es im Arm gehalten wird.
Dies passiert oft aus Neugierde, das Kind experimentiert und findet es interessant, die Haare der Mutter zu berühren und natürlich auch daran zu ziehen. Und besonders die Reaktion der Mutter ist spannend für das Baby.
Manche Eltern reagieren hier mit einem ernsten Blick, hochgezogenen Augenbrauen, und mit strengem Tonfall.  Braucht es hier wirklich diese Strenge? Wir brauchen eigentlich nur unser Kind zu stoppen. „Nein, ich lasse dich nicht an meinen Haaren ziehen. Ich mag das nicht.“ Möglicherweise halten wir die Hand des Kindes fest, wenn es dies nochmals versucht und hindern es daran. Das ist ausreichend. nicht kontrollieren und regulieren können.

Ein weiterer Grund, warum wir meinen, ein strenges Gesicht machen zu müssen, ist vielleicht, dass wir denken, dass unser Kind diese Art von Auftritt braucht, um unsere Botschaft zu verstehen. Vielleicht glauben wir, dass sie etwas Subtileres nicht verstehen können.
Kleinkinder, selbst Babies in diesem Alter sind sehr wach und aufmerksam. Das ist auch der Grund warum sie so schnell überreizt werden. Sie nehmen alles auf, unsere Gedanken und vor allem unsere Emotionen. Das genügt schon. Wir müssen nicht mehr dazutun.
Es ist nicht notwendig, hier zu übertreiben und zu „overacten“. Wir müssen lediglich wir selbst sein. „Nein, ich mag nicht, dass du an meinen Haaren ziehst.“

Vielleicht sind wir auch wirklich ärgerlich und wütend und deshalb ungeduldig und streng. Das kommt natürlich manchmal vor. Wir sind auch nur Menschen, und es gibt Tage (und Nächte😊), an denen alles mühsam und anstrengend ist und wir am Ende unserer Kräfte sind.
Aber wenn wir regelmäßig wütend auf unsere Kinder sind, kann das zu weiteren Problemen führen, weil es ihnen nicht hilft, sich unter unserer Führung sicher und wohl zu fühlen. Es ist beängstigend für sie, wütende Eltern zu haben.

Auch die Reaktion. „Au, du tust mir weh, wenn du an den Haaren ziehst“ ist eigentlich übertrieben, vor allem wenn wir glauben, so unserem Kind vermitteln zu müssen, dass es das nicht tun soll. Warum?

Diese Reaktion gibt dem Kind das Gefühl, dass es viel Macht hat, nämlich die Macht mit seinen kleinen Händen die wichtige erwachsene Bezugsperson zu verletzen.  Auch das ist letztlich verunsichernd und beängstigend für das Kind. Kinder wollen und brauchen keine Macht.
Sie versuchen es noch einmal in der Hoffnung, dass es nicht noch einmal eine solche Reaktion gibt. Und dann entsteht möglicherweise eine Spirale aus negativer Aufmerksamkeit und einem Schuldgefühl des Kindes.

Zusammenfassend: Es braucht lediglich eine authentische klare Reaktion der Eltern und nicht mehr. Das klingt einfach, ist es aber nicht immer. Aber es hilft ungemein, wenn wir uns immer wieder vor Augen führen, dass selbst unsere kleinen Kinder kompetent sind und wir den positiven, vertrauensvollen Blick auf unser Kind behalten.

Teil 2 folgt (ab 1-jährige Kinder)